1. Einleitung: Das De-Zotti-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (23. März 2006, C-465/04) und die Auslegung der Artikel 17 und 19 der Richtlinie 86/653/EWG.

Fast zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit der Europäische Gerichtshof im Fall De Zotti gegen Honyvem Informazioni Commerciali S.r.l. Stellung bezog. In diesem Verfahren beantwortete der EuGH zwei Vorabentscheidungsfragen des italienischen Kassationsgerichts bezüglich des Ausgleichsanspruchs eines Handelsvertreters nach Vertragsbeendigung durch den Unternehmer. Damals stellte das Urteil eine der ersten Entscheidungen in diesem Bereich dar, da die innovativen Artikel 17 und 19 der Richtlinie 86/653/EWG („zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über selbstständige Handelsvertreter“) kurz zuvor endgültig umgesetzt wurden. Artikel 1751 des italienischen Zivilgesetzbuches war damals erstmals durch das gesetzesvertretende Dekret 303/1990 und später durch das gesetzesvertretende Dekret 65/1999 abgeändert worden.

Im vorliegenden Fall hatte die Handelsvertreterin Mariella De Zotti gegen die Honyvem Informazioni Commerciali S.r.l. geklagt, nachdem diese den Handelsvertretervertrag gekündigt hatte. Das Unternehmen hatte den Ausgleich nach Beendigung des Vertragsverhältnisses nach den Kriterien des Kollektivvertrags auf 78.880.276 Lire beziffert, während die Handelsvertreterin der Ansicht war, dass Artikel 1751 des Zivilgesetzbuches anzuwenden sei, wonach der geschuldete Betrag 181.889.420 Lire betragen hätte.

Nachdem die Richter der zweiten Instanz den Forderungen der Klägerin stattgegeben hatten, legte Honyvem Rekurs beim Kassationsgerichtshof ein. Sie argumentierte, dass Artikel 1751 des Zivilgesetzbuches (umformuliert nach den Vorgaben der Artikel 17 und 19 der EU-Richtlinie) die Verweisung auf die Parteiautonomie und damit die Anwendbarkeit von Kollektivverträgen zulasse, wenn diese – nach einer ex-ante-Beurteilung – für den Handelsvertreter vorteilhafter seien. Insbesondere sei ein solcher vorteilhafter Charakter dadurch gegeben, dass der Kollektivvertrag in jedem Fall (d. h. unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 1751 des Zivilgesetzbuches) die Anerkennung einen Ausgleich für den Handelsvertreter bei Beendigung des Verhältnisses garantiere.

Da sich der Kassationsgerichtshof in diesem Punkt nicht einstimmig festlegen konnte, legte er dem EuGH zwei Fragen zur Auslegung der Artikel 17 und 19 der Richtlinie zur Vorabentscheidung vor.

1.1. Die Artikel 17 und 19 der Richtlinie 86/653/EWG und das Verhältnis zwischen den gesetzlichen Bestimmungen und den Kollektivverträgen in der Auslegung des EuGH.

Die Luxemburger Richter erinnerten unter Hinweis auf die Erwägungsgründe der Richtlinie daran, dass eines ihrer Ziele gerade darin bestand, den Handelsvertreter als schwaches Subjekt in seinen Beziehungen zum Unternehmer zu schützen. Dies führte dazu, dass zwingende Vorschriften zum Nachteil des Handelsvertreters aufgestellt wurden (Artikel 17 und 19).

Aus diesem Grund stellte der EuGH klar, dass eine abweichende Quantifizierung der Entschädigung auf der Grundlage einer Vereinbarung privaten Ursprungs (z. B. eines Kollektivvertrags) nur dann akzeptiert werden kann, wenn sie für den Handelsvertreter nicht weniger vorteilhaft ist, d. h. wenn sie „eine Entschädigung vorsieht, die höher oder zumindest gleich hoch ist wie diejenige, die sich aus der Anwendung von Artikel 17 der Richtlinie ergeben würde“.

Bei der Beantwortung der zweiten Frage wurde ausgeführt, dass die Berechnung der Entschädigung auf der Grundlage von Artikel 17 Absatz 2 der Richtlinie nicht nach analytischen Methoden zu erfolgen hat, sondern dass es immer zulässig ist, je nach Situation das Kriterium der Billigkeit als Bezugsgröße zu verwenden.

Angesichts der weiten Verbreitung von Handelsvertreterverträgen hat es in jüngster Zeit nicht an Gerichtsentscheidungen gefehlt, die zur Herausbildung eines juristischen Rahmens zu diesem Thema beitragen, wobei das Urteil De Zotti als Referenz dient.

2. Das Urteil Nr. 3713 vom 09.02.2024: die Voraussetzungen des Artikels 1751 des italienischen Zivilgesetzbuches und das Kriterium der Billigkeit.

Im erwähnten Urteil hatte der Kassationsgerichtshof über die Voraussetzungen zu entscheiden, die gemäß Artikel 1751 des Zivilgesetzbuches für die Anerkennung der Entschädigung bei Beendigung des Vertragsverhältnisses vorliegen müssen. Im vorliegenden Fall beanstandete der Unternehmer, dass der Richter das Vorliegen dieser Voraussetzungen nicht hinreichend genau festgestellt hatte, insbesondere was die Erhöhung der Kundenzahl durch die Arbeit des Handelsvertreters und das Fortbestehen der wirtschaftlichen Vorteile auch nach der Beendigung des Vertragsverhältnisses anbelangt, da im Übrigen kein Vergleich zwischen dem Umsatz vor und nach der Beendigung des Vertragsverhältnisses vorgenommen wurde.

Unter Verweis auf den Inhalt der fraglichen Vorschrift erinnerte der EuGH daran, dass der Ausgleich gemäß Artikel 1751 des Zivilgesetzbuches dem Handelsvertreter zusteht, wenn zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: (a) wenn er dem Unternehmer neue Kunden verschafft oder das Geschäft mit bestehenden Kunden erheblich ausgebaut hat; (b) wenn der Unternehmer nach Beendigung der Geschäftsbeziehung noch „wesentliche Vorteile aus dem Geschäft mit diesen Kunden“ erhält. Darüber hinaus muss das Gericht bei der Ermittlung der Höhe des Ausgleichs nur die „Umstände des Einzelfalls“ berücksichtigen, um festzustellen, ob die Entschädigung der Billigkeit entspricht.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so hat das Gericht die dem Handelsvertreter zustehende Entschädigung zu bestimmen, wobei die in Absatz 3 vorgesehene Obergrenze, die dem Jahresdurchschnitt der in den letzten fünf Jahren erhaltenen Vergütung entspricht, bei kürzerer Dauer des Vertragsverhältnisses ist der Durchschnitt der effektiven Dauer, zu beachten ist.

Nach einem kurzen Aufgreifen der wichtigsten Urteile zu diesem Thema stellte der Gerichtshof fest, dass die Richter im Fall zu Recht den Anspruch des Handelsvertreters auf Zahlung des Ausgleiches anerkannten, da dieser aus dem Nichts ein reichhaltiges Kundennetz auf einem Markt geschaffen hatte, auf dem der Unternehmer zuvor nicht vertreten war, und diesen Markt (wenn auch in nur sechs Jahren) gewinnbringend entwickelt hatte, so dass der Umsatz auch nach Beendigung der Vertragsbeziehung beträchtlich geblieben war.

Darüber hinaus hat der Gerichtshof den dritten Rechtsmittelgrund, der die Anwendbarkeit des Kollektivvertrags betrifft, für unzulässig erklärt und unter Bezugnahme auf das Urteil De Zotti daran erinnert, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Anerkennung des leistungsabhängigen Ausgleiches gemäß Artikel 1751 des Zivilgesetzbuches jede Anwendung von Kollektivverträgen in Bezug auf die Art und Weise der Bemessung der Höhe des Ausgleichs eine nachträgliche Bewertung des Ergebnisses erfordert, um festzustellen, ob es konkret vorteilhafter ist als ein Ausgleich, der nach den Vorgaben von Artikel 1751 des Zivilgesetzbuches festgelegt wurde.

2.1. Das Urteil Nr. 6411 vom 11.3.2025: Wenn der Wirtschaftskollektivvertrag anwendbar ist, weil er für den Handelsvertreter vorteilhafter ist.

Erst vor kurzem hat der Kassationsgerichtshof in einem Fall entschieden, in dem ein Wirtschaftskollektivvertrag auf ein beendetes Handelsvertreterverhältnis zur Anwendung kam, weil dieser für den Handelsvertreter vorteilhafter war als die gesetzliche Bestimmung gemäß Artikel 1751 des italienischen Zivilgesetzbuches.

Im konkreten Fall handelte es sich um ein Handelsvertreterverhältnis, das im Jahr 1966 begründet und im Jahr 2010 beendet wurde. Nach der Vertragsauflösung beantragte der Handelsvertreter die Zahlung eines Ausgleichs. Die Richter lehnten diesen Antrag ab, da sie ausschließlich Artikel 1751 des Zivilgesetzbuches als anwendbar ansahen und der Handelsvertreter die für diese Norm erforderlichen Voraussetzungen – insbesondere den Nachweis dauerhaft vermittelter Kunden sowie fortbestehender wirtschaftlicher Vorteile für den Unternehmer – nicht ausreichend belegt hatte.

Der Kassationsgerichtshof stellte jedoch klar, dass das Verhältnis durch zwei Verträge geregelt war: der erste datierte vom 13. Dezember 1966, der zweite vom 30. September 1991. Während der erste Vertrag keine Bestimmungen zur Beendigungsentschädigung enthielt, schlossen die Parteien im zweiten Vertrag ausdrücklich aus, dass ein solcher Ausgleich geschuldet sei. Die im Vertrag vereinbarten Provisionen sollten bereits sämtliche Ansprüche abdecken. Gleichzeitig wurde jedoch eine Klausel eingefügt, wonach bei späterem Abschluss eines Kollektivvertrags durch die berufsständischen Organisationen die vertraglichen Regelungen in diesem Punkt ex nunc unwirksam würden und der Kollektivvertrag in vollem Umfang – einschließlich der Regelungen zur Kündigungsentschädigung – Anwendung fände.

In diesem Zusammenhang war zu beachten, dass am 16. Februar 2009 ein neuer Kollektivvertrag abgeschlossen wurde. Dieser sah vor, dass sich die dem Handelsvertreter bei Vertragsbeendigung zustehende Entschädigung aus drei Komponenten zusammensetzt. Zwei davon – die Beendigungsentschädigung und die zusätzliche Kundenentschädigung – waren unabhängig vom Vorliegen eines Kunden- oder Umsatzwachstums geschuldet. Nur für die dritte Komponente, die leistungsabhängige Entschädigung, war ein solcher Nachweis erforderlich.

Nach eingehender Analyse der vorliegenden Umstände verwies der Kassationsgerichtshof erneut auf die in der Entscheidung „De Zotti“ festgelegten Grundsätze. Er stellte klar, dass stets jene Regelung zur Anwendung kommt, die dem Handelsvertreter unter Berücksichtigung der konkreten Vertragsverhältnisse das vorteilhafteste Ergebnis sichert. Die Verpflichtung, nicht zu Lasten des Handelsvertreters von den gesetzlichen Vorgaben abzuweichen, bedeutet, dass der gerichtlich nach dem Gesetz ermittelte Betrag Vorrang gegenüber einem niedrigeren kollektivvertraglichen oder individuell vereinbarten Betrag hat.

Im vorliegenden Fall gab der Kassationsgerichtshof dem Rekurs des Handelsvertreters statt. Er stellte fest, dass das Berufungsgericht fehlerhaft nur Artikel 1751 des Zivilgesetzbuches als maßgeblich angesehen und den anwendbaren Kollektivvertrag nicht berücksichtigt hatte. Selbst wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der kodifizierten Norm nicht erfüllt sind, kann die Anwendung einer privatrechtlichen Regelung – wie eines Kollektivvertrags – nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, wenn diese dem Handelsvertreter eine Mindestsumme zusichert, die allein aufgrund der Beendigung des Vertragsverhältnisses und unabhängig von einem Zuwachs an Kunden oder Geschäftstätigkeit des Unternehmers fällig ist.

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