Mit Beschluss Nr. 11346 vom 02.05.2023 haben sich die Vereinigten Sektionen des Kassationsgerichtshofs zur strittigen Frage der Wirksamkeit der Incoterms für die Bestimmung des Lieferorts von Waren in internationalen Verkaufsbeziehungen geäußert – Ort, der auch für die Bestimmung des zuständigen Gerichts zur Entscheidung etwaiger Streitigkeiten zwischen den Parteien entscheidend ist.

Vor näherem Eingehen auf den Beschluss werden im Folgenden zunächst kurz die europäischen Vorschriften über die internationale Zuständigkeit dargestellt und ein Überblick über den Ursprung und die Natur der Incoterms gegeben:

1. Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 (“Brüssel Ia”) und die Bestimmung des zuständigen Gerichts

Im europäischen Rahmen wird für die Bestimmung des zuständigen Gerichts für Streitigkeiten aus internationalen Handelsbeziehungen auf die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („Brüssel Ia -Verordnung“) verwiesen, die die frühere Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ersetzt.

In Art. 4 der Verordnung findet sich die allgemeine Regel hinsichtlich des Gerichtsstandes am Wohnsitz des Beklagten, unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit.

Des Weiteren werden jedoch gewisse Ausnahmeregelungen getroffen, die in den „besonderen Zuständigkeiten“ der Artikel 7 ff. der Verordnung festgelegt sind. In Bezug auf vertragliche Angelegenheiten (Gegenstand des vorliegend kommentierten Beschlusses) ist auf den Inhalt von Artikel 7 zu verweisen. Dieser bestimmt in Absatz 1 Buchstabe a) die Zuständigkeit des Gerichts an dem Ort, an dem die betreffende Verpflichtung erfüllt worden ist.

Die Komplexität im Rahmen von vertraglichen Angelegenheiten hat den europäischen Gesetzgeber dazu veranlasst, eine weitere Präzisierung vorzunehmen, um die Bestimmung des „Erfüllungsorts der Verpflichtung“ zu erleichtern. So wurde präzisiert, dass dies im Falle des Verkaufs von Waren dem Ort entspricht, an dem die Waren geliefert wurden oder nach dem Vertrag hätten geliefert werden müssen. Im Falle der Erbringung von Dienstleistungen handelt es sich hingegen um den Ort, an dem die Dienstleistungen erbracht wurden oder nach dem Vertrag hätten erbracht werden müssen.

2. Die Incoterms der International Chamber of Commerce (ICC)

Wie dargestellt, darf das zuständige Gericht bei der Bestimmung des Lieferorts wie zwischen den Parteien vereinbart nicht unberücksichtigt bleiben. Unbeschadet der Fälle, in denen dieser Ort ausdrücklich festgelegt ist, wird hierfür in der Praxis häufig auf die Regeln der Incoterms-Regeln (INternational COmmercial TERMS) Bezug genommen. Dabei handelt es sich um präzise, von der ICC erarbeitete und veröffentlichte Vertragsklausen, die darauf abzielen, die Aufteilung der verschiedenen Verpflichtungen, Risiken und Kosten, die mit der Lieferung der Waren verbunden sind, eindeutig zwischen Verkäufer und Käufer festzulegen.

Die Incoterms stellen somit eine weltweit anerkannte Referenz dar. Das System hat seinen Ursprung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und wird seither regelmäßig aktualisiert. Die letzte Fassung ist zum 01.01.2020 in Kraft getreten (Incoterms 2020).

3. Der Tatbestsand des vorliegenden Verfahrens

Der der hier besprochenen Entscheidung des Kassationsgerichtshofs zugrunde liegende Rechtsstreit geht auf einen Warenverkauf zurück, der zwischen zwei in zwei verschiedenen Ländern der Europäischen Union ansässigen Unternehmen zustande gekommen war. Diese Geschäftsbeziehung wurde jedoch nicht durch einen Ad-hoc-Vertrag geregelt, vielmehr handelte es sich um eine Reihe an Warenbestellungen, die entsprechenden Bestätigungen sowie nach der Lieferung ausgestellte Rechnungen.

Da der Erwerber Beta (ein Unternehmen mit Sitz in Frankreich) den geschuldeten Betrag nicht gezahlt hatte, beantragte der Verkäufer Alfa (ein Unternehmen mit Sitz in Italien) den Erlass eines Mahnbescheids vor dem Landgericht Brescia, gegen die der Erwerber Widerspruch einlegte. Zur Begründung ihres Einspruchs machte Beta zunächst die Unzuständigkeit des italienischen Gerichts geltend und vertrat die Auffassung, dass das französische Gericht gem. Art. 7 Brüssel Ia-VO zuständig sei. Sie argumentierte, dass in Ermangelung einer besonderen Vereinbarung der Ort zu berücksichtigen sei, an dem die Waren am Bestimmungsort eingetroffen seien, d.h. ihr Hauptsitz in Frankreich.

Alfa machte hingegen geltend, dass ihre Bestellungen, Auftragsbestätigungen und Rechnungen die Incoterms-Klausel „Ex Works“ (EXW, oder „ab Werk“) enthielten, die vorsieht, dass die Lieferung als erfolgt gilt, wenn der Verkäufer die Ware dem Käufer im Werk des Verkäufers oder an einem anderen benannten Ort zur Verfügung stellt. Da im vorliegenden Fall die Waren im Werk des Verkäufers zur Verfügung gestellt wurden, machte Alfa daher Italien als Ort der Lieferung geltend.

Das Landgericht Brescia schloss sich der von Beta vertretenen Auslegung an und erklärte sich dementsprechend für unzuständig, gab dem Widerspruch statt und hob den vorab ergangenen Mahnbescheid auf. Das Berufungsgericht Brescia kam zu demselben Ergebnis und stellte fest, dass die Aufnahme der Incoterms-Klausel „Ex Works“ in die Dokumentation der Beziehungen zwischen den beiden Unternehmen keine automatische Verlagerung des Ortes der Lieferung der Waren zur Folge gehabt hätte, sofern sie nicht von Elementen begleitet ist, die eine solche Wahl eindeutig bestätigten. In Ermangelung weiterer Festlegungen in diesem Sinne hätte die Klausel daher nur den Übergang des Verlustrisikos der Waren zur Folge gehabt.

4. Die Kassation – Auslegung des EuGH aus dem Urteil Electrosteel.

Mit der Anfechtung des Berurungsurteils vor dem Kassationsgerichtshof rügte Alfa die Verletzung und fehlerhafte Anwendung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) Brüssel Ia-VO und machte geltend, dass die Incoterms-Klausel bei Bezugnahme im Rahmen eines internationalen Kaufvertrags den Wert einer Vertragsklausel habe und daher als geeignet anzusehen sei, den Ort der Lieferung der Waren und folglich das zuständige Gericht zu bestimmen.

Zur Stützung des Rechtsmittelgrundes wurde auf das Urteil des EuGH vom 09.06.2011 (Rechtssache C-87/10 – sog. „Electrosteel“-Urteil) verwiesen, das über diese Frage im Anschluss an ein Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Vicenza im Verfahren zwischen einer französischen („Electrosteel“) und einer italienischen Gesellschaft („Edil Centro“) entschieden hatte. Es sei darauf hingewiesen, dass damals trotz der unterschiedlichen Rechtsquelle (Verordnung (EG) Nr. 44/2001) ein ähnlicher Grundsatz für die Bestimmung des zuständigen Gerichts in Vertragssachen galt, da im Falle des Verkaufs von Waren der Erfüllungsort der Verpflichtung der Ort war, an dem die Waren geliefert wurden oder nach dem Vertrag hätten geliefert werden müssen.

Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens war die Frage nach dem Ort der Lieferung der Ware, sei es der endgültige Bestimmungsort der Ware, sei es der Ort, an dem der Verkäufer von seiner Lieferpflicht befreit wird, und zwar nach dem auf den Einzelfall anwendbaren materiellen Recht. Denn auch in diesem Fall enthielt der zwischen den beiden Unternehmen geltende Vertrag die Bestimmung der Incoterms-Klausel Ex Works (EXW).

Der EuGH erinnerte zunächst an seine frühere Entscheidung vom 25.02.2010 (C-381-08, „Car Trim“), in der klargestellt worden war, dass der Lieferort bei Fernabsatzgeschäften auf der Grundlage der vertraglichen Bestimmungen und nur dann, wenn dies nicht möglich ist, im Hinblick auf die tatsächliche Lieferung der Waren zu bestimmen ist.

Was die Überprüfung des „vertraglich festgelegten“ Lieferorts betrifft, so erinnert der Europäische Gerichtshof daran, dass nach Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 44/2011 eine Gerichtsstandsklausel nicht nur schriftlich oder mündlich, sondern auch in einer Form geschlossen werden kann, die nach den Gepflogenheiten der Parteien oder den internationalen Handelsbräuchen (zu denen auch die Incoterms gehören) zulässig ist, sofern sie geeignet ist, den Lieferort eindeutig zu bestimmen.

In Bezug den vorliegend kommentierten Beschluss hat der Europäische Gerichtshof bei der Auslegung der Bedeutung der Klausel „Ex Works“ im Einklang mit den Leitlinien des Gerichtshofs die Eindeutigkeit der wörtlichen Angabe festgestellt und erklärt, dass diese – in Ermangelung einer weiteren Spezifizierung – in erster Linie dazu führt, dass der Lieferort mit dem Sitz oder einem anderen vom Verkäufer angegebenen Ort identifiziert wird. Die Regelung des Gefahren- und Kostenübergangs für den Transport wäre demnach eine bloße Folge der Festlegung des Lieferorts.

Daher wurde daran erinnert, dass geprüft werden muss, ob die betreffende Klausel die Beziehungen mit bindender Wirkung regeln soll oder ob es andere Elemente gibt, die ihren Anwendungsbereich einschränken. Im vorliegenden Fall wurde es als entscheidend angesehen, dass die Angabe „EXW Italien“ sowohl auf den vom Verkäufer ausgestellten Rechnungen als auch auf den Bestellungen des Käufers enthalten war, was den eindeutigen Willen der Parteien in diesem Sinne bestätigte.

Zusammenfassend wurde auch im Lichte des oben erwähnten Urteils in der Rechtssache Electrosteel der Grundsatz aufgestellt, dass die Aufgabe des Gerichts nicht so sehr darin besteht, zu prüfen, ob die Bezugnahme auf die Klausel „EXW“ (oder allgemeiner auf die Incoterms-Klauseln) auch für die Bestimmung des Lieferorts gültig ist (ein Umstand, der jetzt feststeht), sondern ob die im Vertrag tatsächlich wiedergegebene Klausel der Incoterms-Regelung (oder einer anderen Klausel oder einem Handelsbrauch) entspricht und geeignet ist, den Ort der Lieferung der Waren eindeutig zu bestimmen, oder ob nicht andere und zusätzliche Elemente vorliegen, die darauf hindeuten, dass die Parteien einen anderen Lieferort festlegen wollten.

Da das Berufungsgericht Brescia die vorgenannten Grundsätze nicht richtig angewandt und die Klausel „Ex Works“ (die nur dann als geeignet angesehen wird, den Ort der Lieferung der Waren zu bestimmen, wenn die Parteien eine solche weitere Wirkung zuerkannt haben) in Anbetracht der Zuständigkeit des italienischen Gerichts in dieser Rechtssache entwertet hat, haben die Vereinigten Sektionen das angefochtene Urteil aufgehoben und es zur erneuten Entscheidung über den Widerspruch gegen den Mahnbescheid an das Landgericht Brescia zurückverwiesen.

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